Die Zensur ist das Fundament des Krieges.

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So einfach ist das. Wir erleben es aktuell jeden Tag aufs Neue. Der Angriffskrieg auf die Ukraine darf in russischen Medien nicht so benannt werden. Wörter der Wahl sind „militärische Spezialoperation“, „Sondereinsatz“ oder „Entmilitarisierung“ durch „Friedenstruppen“. Die Zensur des Wortes „Krieg“ ist Teil einer Desinformationskampagne, durch die die eigene Bevölkerung unwissend gehalten werden soll. Und offenbar weiß eine breite Masse der Russinnen und Russen, insbesondere diejenigen, die sich auf die traditionellen Informationsquellen Radio und Fernsehen verlassen, tatsächlich immer noch nicht, was gerade im Nachbarland geschieht. Wenn sie von Journalisten auf der Straße mit Bildern von fliehenden Ukrainer:innen konfrontiert werden, winken sie ab: Fake news. Kann nicht sein. Es gibt keinen „Krieg“.

Sprache formt Denken, und zensierte Sprache formt ein anderes Denken. Erst auf dem Fundament der Zensur kann die Kriegspropaganda wirken und der Kriegsherr mit Rückendeckung agieren.

In vormodernen Zeiten fand man Zensur meistens gut und wichtig, ja sogar absolut notwendig: Sie galt – so wurde es von Herrscherseite aus immer wieder erklärt – als Voraussetzung eines friedlichen, sicheren, freien und geordneten Zusammenlebens. Störenfriede und Andersdenkende wurden durch Zensur zum Schweigen gebracht, um so die eigene Macht abzusichern.

Seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, seit den großen Revolutionen und in ihrem Gefolge den ersten gesetzlichen Kodifizierungen der Meinungsfreiheit, hat die Zensur ihr positives Image allmählich verloren. Es hat sich herumgesprochen, dass das mit dem Frieden, der Sicherheit, der Freiheit und der Ordnung durch Zensur eine machtstrategische Lüge war. Demokratische Rechtsstaaten mit Antizensurgesetzen halten verschiedene Meinungen aus und gewähren ihren Bürger:innen trotzdem ein friedlicheres und freieres Leben als Diktaturen.

Die aktuellen Diktaturen bedienen sich der Zensur weiterhin mit Vorliebe – sie geben es aber nicht mehr zu. Sie behaupten Zensurfreiheit, betreiben aber weiterhin Zensur, denn sie wissen um deren große Wirksamkeit. Sie wissen, wie sehr die Unterdrückung sogar von einzelnen Ausdrücken die gesellschaftliche Wirklichkeit prägt. Zensur ist Teil der strategischen Kriegsführung aller Zeiten. So wird aktuell die russische Zensur des Wortes „Krieg“ zur Voraussetzung des Krieges in der Ukraine. Zensur ist das Fundament des Unfriedens, der Unsicherheit, der Unfreiheit, der Unordnung. Sie ist das Fundament des Krieges.

Und noch etwas: Gemeint ist hier die „echte“ Zensur, die formelle Zensur: Zensur als institutionelle, meist staatliche Kontrolle, Restriktion und Sanktionierung öffentlicher Meinungsäußerung.

Denn es gibt diese Art der Zensur leider immer noch, auch wenn wir sie in den letzten Jahren nicht mehr so interessant fanden wie andere Formen der gesellschaftlichen Kommunikationskontrolle im weiten Sinne. Hier und heute geht es aber nicht mehr um das Aufspüren verborgener Unterdrückungsmechanismen in der Sprache oder im Diskurs selbst, wie es die Zensurforschung, inspiriert von Michel Foucault und Pierre Bourdieu, scharfsinnig betreibt. Es geht auch nicht mehr um kulturelle und politische Debatten der Sagbarkeit, in denen „Zensur“ zum beliebigen Passepartoutbegriff werden kann. So fühlen sich Provokateur:innen am rechten Rand des politischen Spektrums gerne „zensiert“, wenn ihnen Kritik an ihren diskriminierenden und menschenverachtenden Äußerungen entgegentritt. Aber auch alle möglichen anderen antidiskriminierenden Tabuisierungen, Proteste und Boykotts werden in der gesellschaftlichen Debatte immer wieder als „Zensur“ bezeichnet.

Das, was uns heute vor Augen geführt wird, ist eine andere Art von Zensur – Zensur in ihrer härtesten, brutalsten Form. Das totale Äußerungsverbot, dessen Verletzung tödliche Folgen haben kann. Es ist die Zensur des Diktators, die den Krieg verschweigt und ihn dadurch ermöglicht. Die Zensur ist das Fundament des Krieges.

Unsere Datenbank „Kasseler Liste“ dokumentiert die klassische Buchzensur aller Zeiten und in der ganzen Welt und zeigt damit nur die winzige Spitze eines riesigen Eisbergs. Man muss ihr, zumindest imaginär, eine andere, noch viel größere Datenbank zur Seite stellen, eine Datenbank der Pressezensur. Diese würde alle unterdrückten Wörter, Sätze und Texte in politischen Informationsmedien enthalten.

Die aktuelle Zensur in Russland wird immer aggressiver. Russische Medien werden nun mit harten Sanktionen bedroht, wenn sie das Fake-Narrativ des „Sondereinsatzes“ nicht nacherzählen; internationale soziale Plattformen werden blockiert. Den Journalistinnen, Reportern und Berichterstatterinnen, die sich Zensur und Desinformation entgegenstellen, die die Diktatur bezeugen und den Krieg dokumentieren, gilt unser höchster Respekt.

Nikola Roßbach und Florian Gassner, 4.3.2022

Censorship is the foundation of war.

It is as simple as that. We are currently experiencing it every day. The war of aggression on Ukraine is not allowed to be called what it is in Russian media. Words of choice are “special military operation”, “special operation” or “demilitarization” by “peacekeepers”. The censorship of the word “war” is part of a disinformation campaign aimed at keeping Russia’s own population ignorant. And apparently a broad mass of Russians, especially those who rely on the traditional sources of information, radio and television, really still do not know what is happening in the neighboring country. When confronted by journalists on the street with pictures of fleeing Ukrainians, they wave them off: Fake news. It can’t be. There is no “war.”

Language shapes thought, and censored language shapes a different kind of thought. Only on the foundation of censorship can war propaganda work and the warlord act unrestrainedly.

In pre-modern times, censorship was usually considered good and important, even absolutely necessary: It was considered – so it was repeatedly explained from the ruler’s side – as a prerequisite of peaceful, safe, free and orderly coexistence. Troublemakers and dissenters were silenced by censorship in order to secure their own power.

Since the last third of the 18th century, since the great revolutions and in their wake the first legal codifications of freedom of expression, censorship has gradually lost its positive image. Word has spread that the peace, security, freedom and order provided by censorship was a lie – a strategy of those in power. Democratic constitutional states with anti-censorship laws can tolerate different opinions and still grant their citizens a more peaceful and free life than dictatorships.

The current dictatorships continue to use censorship with preference – but they no longer admit it. They claim freedom from censorship, but continue to practice censorship because they know how effective it is. They know how much the suppression of even individual expressions shapes social reality. Censorship is part of strategic warfare of all times. Thus, currently the Russian censorship of the word “war” becomes a prerequisite of the war in Ukraine. Censorship is the foundation of discord, insecurity, lack of freedom, disorder. It is the foundation of war.

And another thing: What is meant here is “real” censorship, formal censorship: censorship as institutional, usually state control, restriction and sanctioning of public expression.

This kind of censorship unfortunately still exists, even if in recent years we have not found it as interesting as other forms of social control of communication in the broad sense. Here and now, however, it is no longer about detecting hidden mechanisms of repression in language or discourse itself, as censorship studies, inspired by Michel Foucault and Pierre Bourdieu, astutely do. Nor is it any longer a matter of cultural and political debates about “what can be said,” in which “censorship” can become an arbitrary passe-partout term. For example, provocateurs on the right-wing fringe of the political spectrum like to feel “censored” when they are confronted with criticism of their discriminatory and inhuman statements. But all kinds of other anti-discriminatory taboos, protests and boycotts are also repeatedly referred to as “censorship” in the social debate.

What we face today is a different kind of censorship – censorship in its harshest, most brutal form. The total ban on expression, the violation of which can have deadly consequences. It is the dictator’s censorship that conceals war and thereby makes it possible. Censorship is the foundation of war.

Our database “Kasseler Liste” documents classical book censorship from all periods of history and in the whole world, and it thus shows only the tiny tip of a huge iceberg. It must be supplemented, at least imaginatively, by another, much larger database, a database of press censorship. This would contain all suppressed words, sentences and texts in political information media.

Current censorship in Russia is becoming increasingly aggressive. Russian media are now threatened with harsh sanctions if they do not retell the fake narrative of the “special operation”; international social platforms are blocked. To the journalists and reporters who oppose censorship and disinformation, who bear witness to the dictatorship and document the war, we have the utmost respect.

Nikola Roßbach and Florian Gassner, 4.3.2022